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Verbrecherjagd im Altersheim

Im Altenheim, da ist was los,
denn Herrmann ist kein Trauerkloß!
Wenn etwas mal verschwunden ist,
sitzt er nicht da und trauert trist.

Im Gegenteil, er fängt gleich an,
zu suchen, wo er suchen kann.
Auf einmal kommt’s ihm in den Sinn:
Er ruft: “Die ware widder hinn!”

Des Herrmanns Tochter sich sehr freut:
Das Telefon bei ihr grad’ läut’!
Die Freude währt jedoch nicht lang,
sie hört ein Wispern, ihr wird bang.

„Helga horsch!“, raunt leis’ die Stimme,
und sie ahnt auch gleich das Schlimme.
„Du glaabscht es net, die hawwe mir,
geklaut schon wieder`s Klopapier!“

Die Wangen werden ihr schon bleich.
„Such’ gar net long’. Ich komme gleich!“
Sie sagt’s und steigt mit weiche Knie
hinein in den „Mit-Schuh-bischt-hie“.

Dann fährt sie los, so wie im Traum,
und achtet auf die Schilder kaum.
„Wenn ich des find, und’s Portemonnaie,
oh warte nur, des werd dann schä!“

Schon läuft sie hin, durch Vaters Tür.
Doch wie steht er nun da vor ihr?
Das Haar zersaust, im Hemd ein Riss
und gar im Mund fehlt das Gebiss!

„Jetzt kumm du ämol roi ins Zimmer.
Uff dieses Klo do geh’ isch nimmer!
Die hawwe mir, gar net schäniert,
sogar des gonze Klo verschmiert.“

Die Tochter sieht es mit Entsetzen:
„Jetzt muss ich mich erst einmal setzen.
Wie sieht es denn hier wieder aus?
Rück’ jetzt mal mit der Sprache raus.

Du hattest doch die Zähne wo,
und wenn ich suchen muss im Klo.
So wahr ich Helga Müller heiße:
Ich hol’s Gebiss dir aus der Scheiße!“

Die Helga Müller ist famos,
find`s Portemonnaie in einer Hos’,
die unten lag im Kleiderschrank.
Der Vater wird vom Zuseh’n krank.

Er schaut sie an und ihm wird klar,
der Dieb ja doch ein Trugbild war.
Er sagt: „Des onnere findscht du nimmer.“
Schon geht ihr Blick durch’s ganze Zimmer.

„Du sagst zu mir, ich find es nie?
Wenn doch, dann gehst du auf die Knie!“
Der Vater verspricht’s hoch und heilig,
die Tochter hat es nun sehr eilig,

sieht unter Stühle, unter Bänke,
und hinter alle kleinen Schränke.
Dann schaut sie unter alle Kissen.
Der Vater kriegt ein schlecht’ Gewissen.

Zu guter Letzt, im Brötchenkasten,
kann sie `was Flauschiges ertasten.
„Des Klopapier, isch glaab’, isch spinn’!“,
ruft sie und hält’s dem Vater hin.

Der Vater sieht’s und ist ganz froh,
jetzt kann er wieder auf das Klo.
Und gleich verschwindet er hinein.
Das „Auf die Knie geh’n“ lässt er sein.

Da drin er in den Spiegel schaut,
sein Anblick ihn ja schier umhaut:
„Die Zähne hätt’ ich fast vergessen,
ich muss heut’ Mittag doch zum Essen!“

Derweil die Tochter nicht verzagt,
hat auch den Blick ins Bett gewagt.
Ein Griff, ein Schrei, und in der Hand
hält sie die Zähne, die sie fand.

Der Vater ist nun ganz entzückt,
mit „vollem“ Mund er glücklich blickt.
Die Diebe sind nun ganz vergessen,
mit Freude denkt er nun an’s Essen.

Und sagt, mit einem frohen Lachen:
„Man muss die Augen halt aufmachen!“
Die Tochter hört’s, ihr Mund ist auf,
ist sprachlos und sagt nichts mehr drauf.

So ist’s der Dank. Hat man’s gefunden,
ist tags darauf es bald verschwunden.
Der Herrmann ist kein Trauerkloß,
drum geht die Sucherei dann los.

Denn will der Herrmann etwas holen
und findet’s nicht, so ist’s gestohlen.
Darauf schon bald – wir wissen’s schon,
schellt bei der Tochter das Telefon.

So ist’s ein Kreislauf, dieses Leben:
Die einen nehmen, die anderen geben.
Nur glücklich ist, wer nicht vergisst,
dass Geben nie vergebens ist!

© Anita Hasel 1991

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Liebe

Über Liebe ist schon so viel gesagt, geschrieben, gedichtet und gesungen worden. Von Mutters Küchenradio inspiriert, hab ich mir als Kind die Liebe als eine schöne Frau vorgestellt, über die man gerne singt. Sie war sehr berühmt und wohnte in Frankreich. “Ganz Paris träumt von der Liebe, denn dort ist sie ja zuhaus.“ — Doch mit dem Älterwerden wird die Vorstellung, die man von der Liebe hat – leider oder zum Glück – komplexer. Liebe kann kompliziert sein. Liebe macht verletzbar. Das, was man fälschlicherweise für Liebe hält, kann Schaden anrichten. Liebe kann aber auch das Schönste und Wertvollste sein: Ein großes Glück und Geschenk, das heilt und vereint.
Dann kann Liebe „Einfach Liebe“ sein.


Alle Gedichte © Anita Hasel


Einfach lieben

Einfach spüren, wie du mich streichelst.
Einfach sehen, was du fühlst.
Einfach sagen, was ich denke.
Einfach für dich da sein.
Einfach lieben.

Einfach Liebe

dein Lächeln, das mich ansieht
deine Hände, die mich streicheln
deine Arme, die mich umsorgen
deine Hilfe, die mich rührt
dein Versprechen, das mich hält
deine Liebe, die so einfach ist


Sucht nach Liebe

Ich glaub’, ich sehne mich
nach dem warmen, vertrauten Klang der Stimme,
nach den Händen, die alles tun, ohne zu fordern,
nach den Gesten, die verstehen,
nach den Augen, die so viel sagen –
trotz all der nichts sagenden Dinge, die uns berauben.

Ich glaub’, es drängt mich,
meinen Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu geben,
zu wissen, da ist jemand, der würde alles für mich tun,
zu wissen, er würde mich verstehen,
all meine Ängste, Zweifel, Hoffnungen, Wünsche erahnen –
und all mein Glück.

Ich glaub’, ich bin süchtig,
nach Wärme,
nach Geborgenheit,
nach Zufriedenheit,
nach Harmonie,
– nach Liebe.

© Anita Hasel, 1991

Die geheimnisvolle Frau

Gefühle werden nicht dement – eine Kurzgeschichte

„Es geht alles vorbei“, sagte sie noch und ging dann weiter.
Herrmann Schad schaute ihr nach und schmunzelte, obwohl sie ihm leid tat. Vornübergebeugt schob sie den Rollator vor sich her und schlurfte dabei über den Kies des kleinen Rundweges. Frau Meier mit „ei“ wie in Kartoffelbrei, eine wunderliche alte Frau, dachte er. Wie sie das „ei“ betont hatte, als würde sie mit einem Kleinkind reden, es war einfach zu drollig gewesen.
Eine gut aussehende, ältere Dame auf der Bank ihm schräg gegenüber lächelte ihn an. Höflich lüpfte Herrmann seinen Hut und strahlte zurück. Was für ein hübsches Gesicht, das musste er sich näher betrachten. Mit federndem Schritt ging er auf sie zu.
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Liebesdinge

Wer haucht den Dingen Leben ein?
Mit Lieb’ geschenkt glänzt so ein Ding
noch heller als der schönste Ring
noch nobler als ein Edelstein.

Das kann nur wahre Liebe sein,
die Achtsamkeit bedachtsam schwört
mit feinen, wundersamen Dingen
die Zärtlichkeit und Zartheit bringen.

Ein kleines Glück von großem Wert,
zerbrechlich, viel zu leicht zerstört
in jähem Zorn, im hohen Fall
mit einem wahren Donnerknall

bricht so für immer dieser Schein.

Wer haucht den Dingen Leben ein?


Unverschämtes Glück

Manchmal verpasst man aus lauter Angst sein Glück: Eine Kurzgeschichte

Paula und Paul gehörten zusammen wie der Wind und das Meer. Seit dem Tanztee. Das war schon sehr lange her. Sie erinnerte sich noch gut an die steinharten Biskuits, an denen der Zuckerguss abbröckelte, wenn man sie anfasste. Im gleichen Viertel war damals ein Zahnarzt ansässig, der an den Tanzteeopfern ganz gut verdiente. Edle Biskuits nach Herrenart. In heiße Schokolade getaucht, konnte man sie sogar eine echte Leckerei nennen.
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Versehrte Verse

Verliebt, verlobt, verlogen.
Veralberung? Verhört?
Versprechungen verbogen.
Veronika verstört.

Verlobter Vera Verde
verräterisch verschwieg!
Vergangenheit, verkehrte,
Veronika vertrieb.

Verwirrt, Verstand verwaist.
Versprechungen verblassen.
Veronika verreist.
Verliebt, verlobt, verlassen.

Unverschämtes Glück

Paula und Paul gehörten zusammen wie der Wind und das Meer. Seit dem Tanztee. Das war schon sehr lange her. Sie erinnerte sich noch gut an die steinharten Biskuits, an denen der Zuckerguss abbröckelte, wenn man sie anfasste. Im gleichen Viertel war damals ein Zahnarzt ansässig, der an den Tanzteeopfern ganz gut verdiente. Edle Biskuits nach Herrenart. In heiße Schokolade getaucht, konnte man sie sogar eine echte Leckerei nennen.

„Darf ich bitten?“, hatte er sie damals gefragt, einfach so, ohne sich vorzustellen. Ein junger, großer Mann, an dem der Anzug schlotterte. Seine Fliege war lindgrün, und sie hing ein wenig schief unter seinem spitzen Adamsapfel. Auf seinem schmalen Hals saß jedoch ein ganz passabler Kopf: Keine abstehenden Ohren, die Nase nicht zu klein und helle, kluge Augen. Ein Mann, den „Frau“ nicht so einfach übersah. Noch dazu war er wirklich gut rasiert. Und er roch auch so.
xxxSie atmete tief ein, als läge sein Duft immer noch in ihrer Nase.
xxx„Wer fragt das?“, entgegnete sie barscher als beabsichtigt.
xxxÜber den hellen Augen zog eine Wolke auf.
xxx„Sind Sie blind?“, fragte er. Seine Stimme klang jedoch eher besorgt als kess. Fast zärtlich.
xxxSie erhob sich. „Sehe ich so aus?“
xxxEr betrachtete sie abschätzend. „Eigentlich sehen Sie so aus wie die Frau, mit der ich gerne tanzen würde.“ Sein ernster Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er es genauso meinte.
xxxPaula wurde tatsächlich rot. Sie ärgerte sich darüber. „Ich lasse mich schon bitten – doch vorher wüsste ich gerne, von wem.“
xxx„Ich bin Paul“, sagte Paul und streckte ihr die Hand entgegen.
xxx„Paula.“ Sie gab ihm die ihre.
xxx„Na, da passen wir ja prächtig zusammen.“
xxxSie kicherte.

„Das gibt’s nur einmal“, spielte die kleine Kapelle. Ein ganz neues Lied – der Text zu schön, um wahr zu sein. Schon bei der ersten Drehung trat er ihr auf den Fuß. Er sah besser aus als dass er tanzen konnte. Nach einer Weile bewunderte sie sogar seinen Mut, sich überhaupt auf die Tanzfläche zu wagen. Erstaunlicherweise war sie kein bisschen ärgerlich, obwohl das rosa Sparschwein für ihre hochglanzpolierten Tanzschuhe sein Leben hatte lassen müssen. Später hatte er ihr gebeichtet, dass es ihn total viel Überwindung gekostet hatte, sie überhaupt zum Tanzen aufzufordern.

Ja, Paul war immer schon etwas Besonderes. Für Paula war er ihr Sonnenschein. Trübe Tage, sicher, die gab es auch, so wie man es sich vor dem Altar versprach: In guten wie in schlechten Zeiten. Einander lieben, wenn man glücklich ist, ist wahrlich kein Kunststück. Liebe zeigt sich erst dann, wenn es darauf ankommt. Wenn der Geldregen ausbleibt, die Wehwehchen kommen und die Sorgen nicht mehr über Nacht verschwinden.
xxxAber damals war alles ganz einfach. Man war jung und vertraute seinem Herzen, dass es den richtigen Weg einschlug. Liebe kam ohne Vorwarnung und blieb bei dem, der sie zu schätzen wusste. Nur ein Dummkopf würde sein Glück mit Füßen treten. Nachdenken war antiquiert. Wenn ein junges Ding von einem stattlichen Mann umworben wurde, konnte es sich glücklich schätzen. Und Paul war damals schon Anwärter auf eine gut bezahlte Managerstelle bei der Keksfabrik. Schon nach einem halben Jahr wollte er sie heiraten. Was für ein unverschämtes Glück!

„Darf ich Sie nach Hause begleiten?“, fragte Paul, als der Tanztee beendet war.
xxxPaula nickte, und sie gingen nebeneinander her, eine ganze Weile. Ein harmloser Spaziergang im späten Licht des langen Tages. Er redete, sie hörte zu. Worüber er sprach, war ihr einerlei. Sie mochte seine Stimme. Ein warmer Klang, irgendwie vertraut. Nach etwa einer Stunde kam das Tanztee-Lokal wieder in Sichtweite. Sie blieb stehen, zwei Häuser nur noch bis zum dem Punkt, an dem er ihr angeboten hatte, sie nach Hause zu bringen.
xxx„Danke“, sagte sie, öffnete ihre Handtasche und nahm die Haustürschlüssel heraus.
xxxEr sagte kein Wort, kein Ausdruck des Erstaunens, sondern schenkte ihr ein Lächeln. So wie er es danach immer tat, wenn sie ihn neckte. Auch dafür liebte sie ihn.

Zwei Tage später erhielt sie den Brief von ihm. Den ersten. Mit einer feinen, akkuraten Schrift, es war fast ein Gemälde, blaue Tinte in Sütterlin. Er hatte sein Herz verloren. Nicht in Heidelberg, sondern in Hannover, beim Tanztee. Er konnte nur noch an sie denken, an die Art, wie sie den Kopf hielt, wenn sie ihm zuhörte und an ihr bezauberndes Lächeln. Noch nie hatte ihr ein Mann so etwas geschrieben. Noch dazu auf Pergament. Der Brief zitterte leicht, als sie ihn wieder zusammenfaltete.

In ihrer alten Schmuckschatulle lag er heute noch, zusammen mit den anderen Briefen. Geschnürte Bündel voller Glückseligkeit. Was für ein unverschämtes Glück!

„Haben Sie ihn gekannt?“ Eine alte Dame mit Sonnenhut riss sie aus ihren Gedanken.
xxx„Wen gekannt?“ Sie erschrak.
xxx„Na, meinen Mann. Sie stehen vor seinem Grab.“
xxxJetzt war sie wieder in der Gegenwart, roch den Maiglöckchenduft und spürte den Schmerz in ihrem krummen Rücken. Paul Klee. Die goldenen Buchstaben auf dem schwarzen Stein glänzten im Sonnenlicht.
xxx„Er war ein Jugendfreund“, antwortete Paula.
xxxDie alte Dame bedachte sie mit einem kritischen Blick, die Gießkanne in der Hand. „Kennen wir uns?“, fragte sie.
xxxPaula schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht. Wir – das heißt Ihr Mann und ich – hatten uns schon vor langem aus den Augen verloren. Ich habe nicht einmal gewusst, dass er tot ist. Bis ich zufällig an seinem Grab vorbei kam.“
xxx„Es ist ein Jammer“, sagte die Dame, und ihre Gießkanne neigte sich über die Maiglöckchen. „Ein Leben lang war er gesund. Dass es so plötzlich mit ihm zu Ende gehen sollte, wer hätte das gedacht.“

Paula bückte sich, ihrem altersschwachen Kreuz zum Trotz, und rückte einen Stein an der Grabumrandung zurecht. Wie zufällig fuhren ihre Finger über den Marmor, der sich trotz der warmen Sonne kalt anfühlte. „Wie war er denn so?“, fragte sie.
xxxDie alte Dame runzelte die Stirn.
xxx„Als Mann, meine ich. War er ein guter Mann?“
xxxDie Witwe hielt einen Moment inne, stellte die halbleere Kanne ab. Zuerst machte sie den Eindruck, als sei sie verärgert. Etwas lag auf ihren Lippen. Aber dann senkte sich ihr Blick auf das goldene Ringpaar an ihrer linken Hand. Sie schmunzelte.
xxx„Ein guter Mann, ja, das war er. Ich hatte unverschämtes Glück, ihn zu bekommen. Wobei…“, sie sah auf, „…es nicht so ganz einfach war, am Anfang.“ Ihr Blick schweifte ab. Bedächtiger fuhr sie fort: „In der Oststadt gab es damals ein Lokal, das hieß „Zum goldenen Engel“. Dort gaben sie jeden Samstagnachmittag den Tanztee. Da hatte ich ihn kennengelernt. Aber bis er mal mit mir ausging, ich kann Ihnen sagen, das hat gedauert.“ Sie grinste. „Er war ja so was von schüchtern, nie hat er mich aufgefordert. Später hat er mir gebeichtet, dass er sich nicht getraut hatte wegen seiner schlechten Tanzkünste.“
xxxPaula hatte ihren Paul jedoch ganz anders in Erinnerung. Schüchtern, nein, das war Paul nicht. Doch sie sagte kein Wort.
xxx„Und bis er mich endlich mal ausführte, ich glaub, bis dahin vergingen Monate. Wäre ich nicht so beharrlich geblieben, wäre aus uns nie ein Paar geworden. Tja, was ich mir mal in den Kopf setze, davon bringt mich so leicht keiner ab. Anfangs hatte ich ja sogar den Verdacht gehabt, da gäbe es eine andere, für die er sich interessiert. Aber die hat ihm dann wohl den Laufpass gegeben – zum Glück.“ Sie wurde wieder ernst. „Wir hatten eine recht harmonische Ehe, und ich denke gern daran zurück – jetzt, nachdem der Schmerz nicht mehr ganz so groß ist.“ Sie wandte sich wieder den Pflanzen zu.
xxxMit einem knappen Gruß ging Paula weiter. Doch aus sicherer Distanz blieb sie stehen, drehte sich um und beobachtete das stumme Zwiegespräch am Grab mit dem großen, schwarzen Marmorstein.

Paula und Paul gehörten einst zusammen wie der Wind und das Meer. Sie hatte es gefühlt, damals, und sie hätte es auch wissen müssen. Doch schon seine Briefe hatten ihr Angst eingejagt. Die Worte auf dem Papier waren zu schön geschrieben, um wahr zu sein. Und dann der Verlobungsantrag! Nach so kurzer Zeit! So viel Glück war doch unverschämt. So etwas konnte es doch gar nicht geben!

Als sie die Haustür öffnete, empfing sie wieder die Stille. Es roch muffig, nach Mottenkugeln und Haarspray. So wie sie immer roch – die Einsamkeit.
xxxPaula kochte den Kaffee, goss ihn in zwei Tassen und stellte beide auf den Wohnzimmertisch. Der Sessel neben ihr war leer, doch sein Foto stand daneben. Eingerahmt in Silbergrau, das Papier farblos vergilbt. Er lachte sie an, und nach dem ersten Schluck fragte sie: „Warum trinkst du nicht? Es ist doch dein Kaffee – ich habe ihn zufällig wieder gefunden. Dachte schon, es gibt die Marke gar nicht mehr.“ Sie zögerte. „Er ist selten geworden. Den zu bekommen, dafür muss man schon unverschämtes Glück haben.“

© Anita Hasel

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Die geheimnisvolle Frau

„Es geht alles vorbei“, sagte sie noch und ging dann weiter.
XXHerrmann Schad schaute ihr nach und schmunzelte, obwohl sie ihm leid tat. Vornübergebeugt schob sie den Rollator vor sich her und schlurfte dabei über den Kies des kleinen Rundweges. Frau Meier mit „ei“ wie in Kartoffelbrei, eine wunderliche alte Frau, dachte er. Wie sie das „ei“ betont hatte, als würde sie mit einem Kleinkind reden, es war einfach zu drollig gewesen.

Eine gut aussehende, ältere Dame auf der Bank ihm schräg gegenüber lächelte ihn an. Höflich lüpfte Herrmann seinen Hut und strahlte zurück. Was für ein hübsches Gesicht, das musste er sich näher betrachten. Mit federndem Schritt ging er auf sie zu.
XX„Ein schöner Tag ist das heute, nicht wahr?“ Seine Stimme klang sanft, ein wohliger Bariton, der schon viele Frauenohren umschmeichelt hatte.
XXIhre Augen lachten.
XX„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
XXSie nickte.
XXWie alt sie wohl sein mag, fragte er sich. Nein, das kann man eine Dame auf keinen Fall fragen. Verstohlen neugierig betrachtete er sie von der Seite. Ihre Wangen wirkten samtig, ein angenehmer, leicht süßlicher Geruch von Puder ging von ihr aus. Ein Duft, der ihn an jemanden erinnerte. Fasziniert beobachtete er, wie der Wind mit einer schneeweißen Locke auf ihrer Stirn spielte. Schon lange hatte er etwas so Weiches nicht mehr gestreichelt. Sein Blick fiel auf ihre zierlichen Hände mit den dezent lackierten Fingernägeln. Endlich mal eine Frau in seinem Alter, die Wert auf ihr Äußeres legte. Sie gefiel ihm außerordentlich.

„Sind Sie zum ersten Mal hier?“
XXDie adrette Dame zupfte wortlos an ihrem Rock. Vielleicht war sie schüchtern. Zwei Spatzen jedoch, keine zwei Meter vor ihnen auf dem Boden, waren dafür umso gesprächiger.
XX„Was die sich wohl zu erzählen haben?“, fragte Herrmann.
XXSie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und lächelte, während sie seinem Fingerzeig folgte.
XX„Der Kleine da mit dem zerrupften Gefieder sagt jetzt bestimmt: ‚Hast du den leckeren Wurm da drüben gesehen? Die fette Amsel hat ihn mir vor dem Schnabel weggeschnappt, stell dir das mal vor!’ “, erklärte Herrmann spitzbübisch.
XXWie auf ein Stichwort flog ein ganzer Spatzenverein herbei und verteilte sich lauthals schimpfend in den Maschen des angrenzenden Zaunes. Der Spatzenprotest übertönte sogar fast das Geräusch eines fahrenden Zuges, nicht weit weg von hier. „Ob hier in der Nähe ein Bahnhof ist?“, wandte er sich wieder an die schweigsame Frau.
XXDoch sie antwortete nicht. Was war nur los mit ihr? War sie taub oder vielleicht stumm? Dieser Verdacht verstärkte sich immer mehr, je länger er neben ihr saß.

Schon wieder war ein Zug zu hören. Nur kurz knatterte er über die Gleise. Ratamm-ratamm, ratamm-ratamm. Dann verlor sich das Rattern im Nichts.
xx„Rasend schnell“, sagte Herrmann, „unglaublich schnell. So schnell waren sie damals bei weitem nicht gewesen, meine Züge. Sollen die nur alle schneller werden, mich kümmert das nicht. Nicht mehr. Sollen die anderen sich nur weiter abstrampeln, um nach oben zu kommen. Was hat es mich Zeit und Energie gekostet, nur um oben zu bleiben! Meine Güte, das ist Gott sei Dank vorbei. Ich hatte immer Angst vor dem gehabt, was danach kommen würde, doch jetzt ist es wunderbar: Endlich kann ich meinen eigenen Rhythmus leben, muss nicht mehr gegen den Strom der Zeit schwimmen, der uns doch alle mitnimmt, früher oder später.“

Irgendwie machte sie jetzt einen traurigen Eindruck, die geheimnisvolle Frau neben ihm. Zum Kuckuck auch, er hätte nun endlich gerne gewusst, was sie dachte!
XXDie Sonnenstrahlen kitzelten seine dicke Nase. Herrmann musste niesen. Nun öffnete die Dame ihre Handtasche, zog ein gebügeltes Stofftaschentuch hervor, viel zu groß für Frauennasen, und reichte es ihm. Wie selbstverständlich nahm er es entgegen. Sein Daumen fuhr sacht über das gestickte Monogramm „HS“. Nach Gebrauch sorgsam zusammengefaltet, streichelte er damit seine beiden Nasenflügel, erst den einen, dann den anderen, schließlich ließ er es seufzend in seiner Hosentasche verschwinden.
XXEr schaute sie an. „Wissen Sie, dass Sie mich immer mehr an meine Frau erinnern?“
XXSie öffnete ihren Mund, aber sie kam leider nicht dazu, etwas zu sagen. Eine alte Frau mit offensichtlich schlechter Kinderstube stand plötzlich vor ihnen und schnitt ihr das Wort ab. „Guten Tag, mein Name ist Meier. Meier mit „ei“ wie in Kartoffelbrei!“, verkündete sie vergnügt.
XXHerrmann tippte höflich mit dem Zeigefinger an seine Hutkrempe. „Schad, mein Name ist Schad. Angenehm.“
XX„Sie haben aber einen feinen Mann“, stellte Frau Meier unumwunden fest und zwinkerte der Dame an seiner Seite zu.
XXDie Angesprochene legte ihre schmale Hand auf seinen Schoß und nickte.
XXSie sprachen über das Wetter und das Essen im Seniorenstift. „Es geht alles vorbei“, sagte Frau Meier schließlich, dann stützte sie sich auf den Rollator. Das Quietschen der Räder setzte wieder ein.

„Wie Recht sie doch hat“, sagte Herrmann zu der Frau an seiner Seite. „Aber manches bleibt doch auch ein Leben lang. So wie deine zarte Hand, mein Schatz.“ Er legte den Arm um sie und lächelte.

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© Anita Hasel

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