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Unverschämtes Glück

Paula und Paul gehörten zusammen wie der Wind und das Meer. Seit dem Tanztee. Das war schon sehr lange her. Sie erinnerte sich noch gut an die steinharten Biskuits, an denen der Zuckerguss abbröckelte, wenn man sie anfasste. Im gleichen Viertel war damals ein Zahnarzt ansässig, der an den Tanzteeopfern ganz gut verdiente. Edle Biskuits nach Herrenart. In heiße Schokolade getaucht, konnte man sie sogar eine echte Leckerei nennen.

„Darf ich bitten?“, hatte er sie damals gefragt, einfach so, ohne sich vorzustellen. Ein junger, großer Mann, an dem der Anzug schlotterte. Seine Fliege war lindgrün, und sie hing ein wenig schief unter seinem spitzen Adamsapfel. Auf seinem schmalen Hals saß jedoch ein ganz passabler Kopf: Keine abstehenden Ohren, die Nase nicht zu klein und helle, kluge Augen. Ein Mann, den „Frau“ nicht so einfach übersah. Noch dazu war er wirklich gut rasiert. Und er roch auch so.
xxxSie atmete tief ein, als läge sein Duft immer noch in ihrer Nase.
xxx„Wer fragt das?“, entgegnete sie barscher als beabsichtigt.
xxxÜber den hellen Augen zog eine Wolke auf.
xxx„Sind Sie blind?“, fragte er. Seine Stimme klang jedoch eher besorgt als kess. Fast zärtlich.
xxxSie erhob sich. „Sehe ich so aus?“
xxxEr betrachtete sie abschätzend. „Eigentlich sehen Sie so aus wie die Frau, mit der ich gerne tanzen würde.“ Sein ernster Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er es genauso meinte.
xxxPaula wurde tatsächlich rot. Sie ärgerte sich darüber. „Ich lasse mich schon bitten – doch vorher wüsste ich gerne, von wem.“
xxx„Ich bin Paul“, sagte Paul und streckte ihr die Hand entgegen.
xxx„Paula.“ Sie gab ihm die ihre.
xxx„Na, da passen wir ja prächtig zusammen.“
xxxSie kicherte.

„Das gibt’s nur einmal“, spielte die kleine Kapelle. Ein ganz neues Lied – der Text zu schön, um wahr zu sein. Schon bei der ersten Drehung trat er ihr auf den Fuß. Er sah besser aus als dass er tanzen konnte. Nach einer Weile bewunderte sie sogar seinen Mut, sich überhaupt auf die Tanzfläche zu wagen. Erstaunlicherweise war sie kein bisschen ärgerlich, obwohl das rosa Sparschwein für ihre hochglanzpolierten Tanzschuhe sein Leben hatte lassen müssen. Später hatte er ihr gebeichtet, dass es ihn total viel Überwindung gekostet hatte, sie überhaupt zum Tanzen aufzufordern.

Ja, Paul war immer schon etwas Besonderes. Für Paula war er ihr Sonnenschein. Trübe Tage, sicher, die gab es auch, so wie man es sich vor dem Altar versprach: In guten wie in schlechten Zeiten. Einander lieben, wenn man glücklich ist, ist wahrlich kein Kunststück. Liebe zeigt sich erst dann, wenn es darauf ankommt. Wenn der Geldregen ausbleibt, die Wehwehchen kommen und die Sorgen nicht mehr über Nacht verschwinden.
xxxAber damals war alles ganz einfach. Man war jung und vertraute seinem Herzen, dass es den richtigen Weg einschlug. Liebe kam ohne Vorwarnung und blieb bei dem, der sie zu schätzen wusste. Nur ein Dummkopf würde sein Glück mit Füßen treten. Nachdenken war antiquiert. Wenn ein junges Ding von einem stattlichen Mann umworben wurde, konnte es sich glücklich schätzen. Und Paul war damals schon Anwärter auf eine gut bezahlte Managerstelle bei der Keksfabrik. Schon nach einem halben Jahr wollte er sie heiraten. Was für ein unverschämtes Glück!

„Darf ich Sie nach Hause begleiten?“, fragte Paul, als der Tanztee beendet war.
xxxPaula nickte, und sie gingen nebeneinander her, eine ganze Weile. Ein harmloser Spaziergang im späten Licht des langen Tages. Er redete, sie hörte zu. Worüber er sprach, war ihr einerlei. Sie mochte seine Stimme. Ein warmer Klang, irgendwie vertraut. Nach etwa einer Stunde kam das Tanztee-Lokal wieder in Sichtweite. Sie blieb stehen, zwei Häuser nur noch bis zum dem Punkt, an dem er ihr angeboten hatte, sie nach Hause zu bringen.
xxx„Danke“, sagte sie, öffnete ihre Handtasche und nahm die Haustürschlüssel heraus.
xxxEr sagte kein Wort, kein Ausdruck des Erstaunens, sondern schenkte ihr ein Lächeln. So wie er es danach immer tat, wenn sie ihn neckte. Auch dafür liebte sie ihn.

Zwei Tage später erhielt sie den Brief von ihm. Den ersten. Mit einer feinen, akkuraten Schrift, es war fast ein Gemälde, blaue Tinte in Sütterlin. Er hatte sein Herz verloren. Nicht in Heidelberg, sondern in Hannover, beim Tanztee. Er konnte nur noch an sie denken, an die Art, wie sie den Kopf hielt, wenn sie ihm zuhörte und an ihr bezauberndes Lächeln. Noch nie hatte ihr ein Mann so etwas geschrieben. Noch dazu auf Pergament. Der Brief zitterte leicht, als sie ihn wieder zusammenfaltete.

In ihrer alten Schmuckschatulle lag er heute noch, zusammen mit den anderen Briefen. Geschnürte Bündel voller Glückseligkeit. Was für ein unverschämtes Glück!

„Haben Sie ihn gekannt?“ Eine alte Dame mit Sonnenhut riss sie aus ihren Gedanken.
xxx„Wen gekannt?“ Sie erschrak.
xxx„Na, meinen Mann. Sie stehen vor seinem Grab.“
xxxJetzt war sie wieder in der Gegenwart, roch den Maiglöckchenduft und spürte den Schmerz in ihrem krummen Rücken. Paul Klee. Die goldenen Buchstaben auf dem schwarzen Stein glänzten im Sonnenlicht.
xxx„Er war ein Jugendfreund“, antwortete Paula.
xxxDie alte Dame bedachte sie mit einem kritischen Blick, die Gießkanne in der Hand. „Kennen wir uns?“, fragte sie.
xxxPaula schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht. Wir – das heißt Ihr Mann und ich – hatten uns schon vor langem aus den Augen verloren. Ich habe nicht einmal gewusst, dass er tot ist. Bis ich zufällig an seinem Grab vorbei kam.“
xxx„Es ist ein Jammer“, sagte die Dame, und ihre Gießkanne neigte sich über die Maiglöckchen. „Ein Leben lang war er gesund. Dass es so plötzlich mit ihm zu Ende gehen sollte, wer hätte das gedacht.“

Paula bückte sich, ihrem altersschwachen Kreuz zum Trotz, und rückte einen Stein an der Grabumrandung zurecht. Wie zufällig fuhren ihre Finger über den Marmor, der sich trotz der warmen Sonne kalt anfühlte. „Wie war er denn so?“, fragte sie.
xxxDie alte Dame runzelte die Stirn.
xxx„Als Mann, meine ich. War er ein guter Mann?“
xxxDie Witwe hielt einen Moment inne, stellte die halbleere Kanne ab. Zuerst machte sie den Eindruck, als sei sie verärgert. Etwas lag auf ihren Lippen. Aber dann senkte sich ihr Blick auf das goldene Ringpaar an ihrer linken Hand. Sie schmunzelte.
xxx„Ein guter Mann, ja, das war er. Ich hatte unverschämtes Glück, ihn zu bekommen. Wobei…“, sie sah auf, „…es nicht so ganz einfach war, am Anfang.“ Ihr Blick schweifte ab. Bedächtiger fuhr sie fort: „In der Oststadt gab es damals ein Lokal, das hieß „Zum goldenen Engel“. Dort gaben sie jeden Samstagnachmittag den Tanztee. Da hatte ich ihn kennengelernt. Aber bis er mal mit mir ausging, ich kann Ihnen sagen, das hat gedauert.“ Sie grinste. „Er war ja so was von schüchtern, nie hat er mich aufgefordert. Später hat er mir gebeichtet, dass er sich nicht getraut hatte wegen seiner schlechten Tanzkünste.“
xxxPaula hatte ihren Paul jedoch ganz anders in Erinnerung. Schüchtern, nein, das war Paul nicht. Doch sie sagte kein Wort.
xxx„Und bis er mich endlich mal ausführte, ich glaub, bis dahin vergingen Monate. Wäre ich nicht so beharrlich geblieben, wäre aus uns nie ein Paar geworden. Tja, was ich mir mal in den Kopf setze, davon bringt mich so leicht keiner ab. Anfangs hatte ich ja sogar den Verdacht gehabt, da gäbe es eine andere, für die er sich interessiert. Aber die hat ihm dann wohl den Laufpass gegeben – zum Glück.“ Sie wurde wieder ernst. „Wir hatten eine recht harmonische Ehe, und ich denke gern daran zurück – jetzt, nachdem der Schmerz nicht mehr ganz so groß ist.“ Sie wandte sich wieder den Pflanzen zu.
xxxMit einem knappen Gruß ging Paula weiter. Doch aus sicherer Distanz blieb sie stehen, drehte sich um und beobachtete das stumme Zwiegespräch am Grab mit dem großen, schwarzen Marmorstein.

Paula und Paul gehörten einst zusammen wie der Wind und das Meer. Sie hatte es gefühlt, damals, und sie hätte es auch wissen müssen. Doch schon seine Briefe hatten ihr Angst eingejagt. Die Worte auf dem Papier waren zu schön geschrieben, um wahr zu sein. Und dann der Verlobungsantrag! Nach so kurzer Zeit! So viel Glück war doch unverschämt. So etwas konnte es doch gar nicht geben!

Als sie die Haustür öffnete, empfing sie wieder die Stille. Es roch muffig, nach Mottenkugeln und Haarspray. So wie sie immer roch – die Einsamkeit.
xxxPaula kochte den Kaffee, goss ihn in zwei Tassen und stellte beide auf den Wohnzimmertisch. Der Sessel neben ihr war leer, doch sein Foto stand daneben. Eingerahmt in Silbergrau, das Papier farblos vergilbt. Er lachte sie an, und nach dem ersten Schluck fragte sie: „Warum trinkst du nicht? Es ist doch dein Kaffee – ich habe ihn zufällig wieder gefunden. Dachte schon, es gibt die Marke gar nicht mehr.“ Sie zögerte. „Er ist selten geworden. Den zu bekommen, dafür muss man schon unverschämtes Glück haben.“

© Anita Hasel

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Schwebende Elefanten

Annika war nun in einem Alter, in dem man beide Hände braucht, um die Anzahl der Lebensjahre an den Fingern abzuzählen. Schon im Kindergarten hat sie gewusst, wie man das macht: Die linke Hand spreizen, und mit der rechten Anhalter spielen. Mächtig stolz betrachtete sie ihre Hände.
xxx„Mit siebzehn hat man noch Träume“, sang der Mann im Radio. Bis siebzehn konnte sie schon auswendig zählen, sogar bis zwanzig, das hatte ihr der Vater beigebracht. Doch wie macht man das dann mit den Fingern, wenn man nur zwei Hände hat? Und überhaupt: Siebzehn! Da musste man schon sehr, sehr alt sein. Aber immerhin, träumen würde man dann noch können – auch noch mit siebzehn.

Letzte Nacht hatte sie von lilafarbenen Elefanten geträumt, die über der Wüste schwebten. Die waren ganz leicht, obwohl sie so groß waren. Das sah lustig aus. Aus der Sonne strahlte ein helles Licht, und viele bunte Steine lagen am Wegesrand, glitzerten. Wie die Glasmurmeln in ihrer geheimen Schatztruhe unter dem Bett. Gerne würde sie heute Nacht diesen Traum weiterträumen. „Mit etwas Glück“, hatte die Mutter gesagt, „träumst du wieder davon.“ Und Glück, davon hatte sie jetzt jede Menge, denn der Klee auf ihrer Fensterbank war heute Morgen erwachsen geworden. Ganz schnell war das gegangen, bis aus dem Samen zartes Grün durch die Erde wuchs, und nun besaß jeder Klee vier Blätter. „Wenn du den im Wald findest, bedeutet das Glück“, hatte ihr die Mutter erklärt.
xxx„Wie kann der Klee mir Glück bringen?“, fragte sie beim Abendbrot.
xxxDer Vater, vertieft in die Zeitung, mit der man so schöne Schiffe bauen kann, schaute kurz auf, nur um dann wieder das zu tun, was er am liebsten tat: Lesen.
xxx„Der vierblättrige Klee ist selten, deshalb bringt er Glück“, antwortete die Mutter.
xxxAnnika knabberte an einem Radieschen. Florian aus der Schule hatte kein Glück. Sein Vater war nie da und seine Mutter immer krank. Deswegen kam er auch immer zu spät und musste zur Strafe nachsitzen.
xxx„Ist mein Klee auf der Fensterbank auch selten?“, fragte sie.
xxxDer Vater brummte. „Das ist doch alles Unfug. Diesen Klee verkaufen sie doch haufenweise, besonders zu Silvester. Als originelle Geschenkidee für all die Unglücklichen, die darauf hoffen, dass das neue Jahr besser wird. Doch das einzige, was dieses Unkraut zustande bringt, ist, sich wie wild in allen Topfzimmerpflanzen zu vermehren, und zwar so hartnäckig, dass man es nie wieder los wird.“
xxxDie Mutter kniff die Lippen zusammen.
xxx„Au!“, rief er. „Tritt mich doch nicht unter dem Tisch!“
xxx„Dein Glücksklee ist der einzige Klee, der auf deiner Fensterbank wächst, und daher ist er selbstverständlich selten“, erklärte die Mutter.
xxxAnnika runzelte die Stirn. Würde sie ein paar Triebe verschenken, würde er aber auch auf anderen Fensterbänken wachsen, und dann wäre er also nicht mehr selten. Dann müsste sie ihn schon ganz verschenken. Sie nahm einen großen Schluck Apfelsaft.
xxx„Wo kommt das Glück denn her?“, fragte sie, und dieses Mal sah sie instinktiv nur die Mutter an.
xxxDoch der Vater antwortete: „Glück kommt nirgendwo her. Glück ist entweder da oder nicht. So ist das.“
xxx„Und warum ist das so?“, fragte Annika.
xxx„Das verstehst du noch nicht“, war die knappe Antwort.
xxxSchon wollte sie die Unterlippe vorschieben, doch die Mutter mischte sich ein: „Glück ist nicht einfach nur so da. Das Glück kommt zu dir, wenn du fest daran glaubst.“
xxx„Wenn ich an meinen Klee glaube, dann kommt das Glück zu mir?“
xxxDie Mutter nickte. „Genauso ist es.“
xxx„Unfug“, schnarrte der Vater. „Mit Glauben hat das nichts zu tun. Mancher hat eben Glück, der andere nicht.”
xxx„Aber es heißt doch auch: Jeder ist seines Glückes Schmied. Nein, nein, mein Lieber, so einfach ist das nicht“, erwiderte die Mutter. „Wenn du nicht an dein Glück glaubst, kannst du es auch nicht schmieden. Letzten Endes sind wir doch alle für unser Los verantwortlich. Entweder wir pflanzen einen neuen Baum, oder wir sägen an unserem eigenen Ast.“
xxx„Florians Mutter aber hat nicht einmal einen Garten. Ich glaube nicht, dass er an einem Ast gesägt hat.“ Annika sah ihre Eltern mit großen Augen an.
xxx„Florian, der Junge von nebenan“, antwortete die Mutter auf das Stirnrunzeln des Vaters. „Sein Vater ist auf und davon, und seine Mutter hat ein Alkoholproblem. Zwei von seinen sechs Geschwistern übrigens auch schon.“
xxx„Und warum hat Florian dann kein Glück?“, bohrte Annika weiter.
xxx„Er wurde in die falsche Familie hinein geboren“, war die Antwort des Vaters.

***

Letzte Nacht hatte sie die Elefanten wieder gesehen. Groß und bunt, mit riesigen Ohren und langen, spitzen Stoßzähnen sind sie vom Himmel herabgekommen. Und dann haben sie alles zertrampelt, was ihnen unter die Füße kam. Die anderen haben geschrien, doch Annika konnte sich nicht rühren. Starr vor Schrecken musste sie mit ansehen, wie die Schlafstätten aus Zeitungspapier und Pappe zerstört wurden, Flaschen klirrten, Glas splitterte. Bis der Himmel explodierte. Dann war es still.
xxxWie eine Schiffbrüchige lag sie auf der Luftmatratze. Die Brücke, die keine zehn Meter weit von ihr über den brackigen Kanal führte, war immer noch da. Doch die Farben waren verschwunden. Der Herbstnebel hatte die Unterstadt mit einem feinen Grauschleier überzogen. Konnte Grau noch grauer werden? Ihre Hand rupfte nervös an dem feuchten Gras.
xxxEin junger Mann, etwa in ihrem Alter, kam in Sichtweite. Ein Jogger. Er lief ziemlich schnell. Irgendwie erinnerte er sie an einen Schulfreund aus der Grundschule: Florian. Von ihm hatte sie ihren ersten Kuss bekommen, auf die Wange. Was wohl aus ihm geworden war? Vielleicht sollte sie ihn aufstöbern, vielleicht würde er ihr Geld leihen, nur ein paar Euro oder vielleicht soviel, dass sie diese Woche überstand?
xxxDer Jogger blieb stehen. Sein Gesicht war gerötet, und er atmete stoßweise. Vorn übergebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, sah er zu ihr herüber.

xxx„Hi!“, rief Annika.
xxxEr richtete sich auf und ging auf sie zu.
xxx„Hi! Was tust du hier? Es ist doch viel zu kalt, um hier im Gras zu liegen.“
xxx„Sie haben mich hier gelassen. Letzte Nacht. Sind einfach weitergezogen und haben mich nicht mitgenommen.“
xxxDer Jogger betrachtete das „Hier“: Überall lagen Flaschen und Pappbecher herum. Verbrannte Erde und schwarze Asche zeugten von einer nächtlichen Feuerstelle. Unter seinem Schuh knirschte es verdächtigt. Er hob den Fuß. Eine kaputte Spritze.
xxx„Bist du okay?“
xxx„Ich hab nur fest geschlafen.“
xxx„Deine Freunde haben dich einfach zurückgelassen, weil du geschlafen hast?“ Er runzelte die Stirn.
xxxSie stand auf. Doch das ging nur sehr langsam, denn die Welt begann sich zu drehen.
xxxDer Jogger griff in seine Jackentasche.
xxxAnnika griff nach dem angebotenen Päckchen, ließ es dann aber gleich darauf fallen. Gummibärchen! Das Karussell drehte sich schneller. Sie musste sich wieder setzen.
xxx„Warum gehst du nicht nach Hause. Hast du keine Eltern?“, fragte er und ging vor ihr in die Hocke.
xxx„Pah! Eltern! Bin froh, dass ich die endlich los bin!“, keifte sie.
xxx„Ich wäre froh, ich hätte welche gehabt”, sagte er.
xxxSie verzog den Mund. „Da hast du nix verpasst, glaub mir. Dauernd dieses Bevormunden. Als wenn man noch ein Kind wäre! Die schnallen es nicht, die kapieren einfach gar nichts. Sie wollen dir nur vorschreiben, was du zu tun und zu lassen hast. Und immer wissen sie alles besser! Diese Großkotze, ich …“ Sie verstummte.
xxx„Mein Vater kam ins Gefängnis, als ich fünf war. Und meine Mutter – die nahm sich das Leben, da kam ich gerade in die vierte Klasse“, sagte er.
Gedankenverloren rupfte sie an dem Gras. „Kannst du mir Kohle leihen – nur ein paar Euro oder so…?“
xxxEr zog die Innentaschen seiner Jogginghose nach außen. „Glaubst du, ich laufe um diese Uhrzeit hier mit Geld herum? Schon öfters ist hier einer überfallen worden. Und du solltest auch nicht mehr bleiben. Komm doch mit.“
xxx„Wohin willst du mich mitnehmen?“
xxx„Ich wohne nicht weit weg von hier. Dort kann ich dir ´ne heiße Schokolade machen. Wenn du willst.“

Zwischen ihren Fingern hielt sie einen Klee. Er hatte vier Blätter. Sie zwirbelte ihn hin und her, und aus den Blättern wurde ein kleiner Propeller.
xxx„Glaubst du an das Glück?“, fragte sie ihn.
xxxEr nahm das zarte Pflänzchen aus ihrer kalten Hand. Vorsichtig, als könnte es in seinen Fingern zerdrückt werden, betrachtete er es nachdenklich. Seine Mundwinkel zuckten, doch er schwieg.
xxx„Und du?“, fragte er schließlich.
xxxSie hielt den Kopf etwas schief und schaute ihn an. Ihre Nase begann, sich zu kräuseln. Entschlossen stand sie auf: „Ich bin Annika.“
xxxAuch er erhob sich. „Florian“, erwiderte er und reichte ihr die Hand.
xxxSie lachten.
xxx„Gibst du ihn mir wieder?“ Sie meinte den Klee.
xxxEr gab ihn zurück.

„Der ist nämlich selten“, erklärte sie, als sie gemeinsam die Wiese verließen.

© Anita Hasel

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