Wahre Begebenheiten

Die Namen der Personen im Nachfolgenden wurden geändert. 

Fühlen Sie sich geküsst

Die alte Dame trägt ein Kostüm, wirkt gepflegt und ist perfekt frisiert. Sie sieht aus, als sei sie auf dem Weg zu einem besonderen Event. Der Fahrstuhl, der sie nach unten fährt, wirkt durch ihre Anwesenheit alt und gebrechlich. Daran ändert auch die junge Frau in Weiß nichts, die sich ebenfalls in diesem Fahrstuhl befindet, mit einem Servierwagen voller Speisen, die nur probiert oder halb aufgegessen wurden. Sie schauen sich an, beide haben das selbe Ziel, beide verbindet die Zufälligkeit. “Nur keine Sorge, Frau Huber, ich fahre mit Ihnen runter und bringe Sie in das Haus A. Sie sind hier im Haus B, doch Sie wohnen im Haus gegenüber.” Die alte Dame schaut sie traurig an. “Wissen Sie, wenn man abends hier herumläuft, hat man Angst, dass schon alle in den Betten liegen und einem keiner mehr sagen kann, wohin man gehen muss.” “Da müssen Sie keine Angst haben”, sagt die Pflegekraft, “Sie gehen hier nicht verloren, wir sind doch für Sie da.” Da seufzt die alte Dame, lächelt und sagt: “Wenn Sie meine Tochter wären, würde ich Sie jetzt küssen. Fühlen Sie sich geküsst, wenn Sie heute Nacht schlafen gehen.”

Der unendliche Urlaub

Herr Stein (88) hat Besuch von seiner Enkelin (18). Weil sie nicht wusste, worüber sie sich mit dem senilen, alten Mann unterhalten sollte, hat sie Fotos vom letzten Urlaub mitgebracht. Der Großvater, sichtlich erfreut, betrachtet ein Bild nach dem anderen, stellt Fragen, zeigt sich erstaunt über dies und das. Erleichtert, ein gemeinsames Thema gefunden zu haben, legt die Enkelin die Fotos beiseite und erzählt noch mehr von der Reise. Herr Stein lauscht interessiert, bis ihn etwas auf dem Tisch ablenkt. Er deutet auf die bereits gezeigten Fotos: “Hast du die mitgebracht?” Die Enkelin beginnt erneut, ihm die Fotos zu zeigen. Herr Stein erfreut sich auf’s Neue an den Urlaubsfotos. Schneller als sonst vergeht die Besuchsstunde. …Wenn das Gedächtnis nachlässt, wird das Jetzt wichtiger. Sich am dem zu erfreuen, was im Augenblick geschieht, darauf kommt es an.

Geht doch!

Im Seniorenstift ist die Eingangshalle zu gewissen Zeiten verwaist – bis auf eine Bewohnerin. Ich habe die Hoffnung schon aufgegeben, unbemerkt an ihr vorbeizukommen. Mit Argusaugen beobachtet sie jeden, der herein kommt. Ihr Blick erinnert mich an die Schulrektorin mit Wasserwellenperücke, die ich in der ersten Klasse als Lehrerin hatte, auch sie hatte diese kantige, strenge Brille, mit der sie jeden der kleinen armen Sünder bis ins Mark durchschaute. – Wie schon erwähnt, diese Bewohnerin war im Seniorenstift immer präsent. Jedoch –  einmal hatte sie mich überrascht, als sie auf einem anderen Lehnstuhl thronte als gewohnt. Im Augenwinkel hatte ich sie dann doch noch wahrgenommen, als ich fast schon an ihr vorbei war. Ich grüßte verspätet, ihr Blick fing mich dennoch ein. “Geht doch!”, trompetete sie mich an.  … Was bleibt vom Sein, wenn man Sein mit Wichtig definiert, das Alter aber die Wichtigkeit geraubt hat?

Raten Sie mal!

Herr Weiss ist über 90, gepflegtes Äußeres. Zum Altenheim gehört ein kleiner Park mit Bänken, auf denen Herr Weiss immer sitzt, wenn die Sonne scheint. Kommt eine Dame (es gibt dort fast nur Damen) vorbei, lüpft Herr Weiss seinen Hut zum Gruß. Nach einer kurzen Aussage über das Wetter folgt prompt seine Aufforderung: “Raten Sie mal, wie alt ich bin!” “Frau” schätzt ihn höchstens auf 80, vielleicht sogar 75. Schließlich hat er wenig Falten und kaum Altersflecken und sein Lächeln macht auch ein paar Jahre wett. Herr Weiss posaunt begeistert sein Alter heraus: “Ich werde bald 95!” … So kann auch die Tatsache, dass vom Leben nur noch wenig Zeit übrig ist, ein sonniges Gemüt erheitern.

Zurück zur Langsamkeit

Frau Zimmer (85) ist zur Zeit in Reha und macht gute Fortschritte. Sie will wieder selbständig sein und bleiben, das ist toll! Wenn man ihr zuschaut, wie beschwerlich jede Bewegung für sie ist, die für unsereins total selbstverständlich und leicht vonstatten geht, ist das wirklich bewundernswert. – Ihre Zimmernachbarin, Frau Rebstock (82), selbe Problematik, sieht das jedoch anders. Sie kann sich noch schlechter bewegen als ihre Leidensgenossin, hat kaum Lust zum Trainieren und möchte am liebsten in den Rollstuhl. Gestern erklärten wir Frau Zimmer den Fernseher, da meinte ihre Nachbarin, sie sieht ja so gut wie kein Fernsehen mehr, sie möchte wieder “zurück zur Langsamkeit”, das sei in unserer Zeit so dringend notwendig. …. ! Eine alte Frau, die sich nur noch in Zeitlupe bewegen kann, will zurück zur Langsamkeit! Und die Berufstätigen im Hamsterlaufrad, das sich immer schneller dreht, wundern sich, wo die Zeit geblieben ist, weil sie sich so an die Geschwindigkeit gewöhnt haben, dass sie sie gar nicht mehr bemerken. Tja, so ist das manchmal – eine verrückte Welt.