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Ein Gruselkrimi

Die Qual der Ausweglosen

Mike schwitzte Cola. Die schwarze Flüssigkeit floss durch seine Kehle auf direktem Weg zu den Schweißdrüsen. Sogar hier, in der klimatisierten Raststätte. Es half nichts, er musste wieder hinaus. Erbarmungslose Hitze, er konnte sie buchstäblich sehen, sie hatte Gestalt angenommen, waberte zäh über der Motorhaube des Polizeiwagens, der auf ihn wartete.
xxxIm Fahrzeug saß Berger, der aussah, als würde er schlafen. Alle Fenster waren geschlossen, der Wagen stand in der prallen Sonne. War Berger denn verrückt geworden? Mike riss die Beifahrertür auf, heiße Luft entwich, verschlug ihm den Atem. Und der Sitz, der war die Hölle! Wie konnte sein Kollege bei dieser Hitze schlafen?! Doch Berger schlief nicht. Er war regungslos versunken in ein Buch. Das einzig Lebendige an ihm war der Schweiß, der von seinem Haar auf den Hemdkragen tropfte. Die Lektüre musste es in sich haben.
xxx„Was liest du da?“, fragte Mike.
xxxBerger gab es ihm, den Blick nach vorne gerichtet.
xxxDie Schädelstätte. Eine spitze Schrift, rot triefende Buchstaben, die auf Gebeine tropften. Der Einband war speckig, schwarzes Leder, auf dem der Titel sofort ins Auge sprang. Mike hielt den abgegriffenen Schmöker mit den Fingerspitzen in der Waagrechten, als könne er auslaufen.
xxx„Was ist denn das?“
xxxDas ist die Quelle.“

Mike las den Prolog:
xxx„Die Autobahn gehört nicht den Menschen allein. Manchmal können wir SIE sehen. Wenn es flirrt über der geteerten Masse. Das sind DIE WESEN. Heiße Luft lässt sie im Reich der Sterblichen sichtbar werden. Flüchtige Verzerrungen, die sich nicht bewegen. Noch nicht. Noch sind sie auf der Lauer, wie Spinnen in ihrem Netz, die in Erwartung neuer Beute verharren. Jederzeit bereit, loszuschnellen! Sie warten auf den Auslöser, auf die Bewegung fetter Beute, die doch ihren Hunger nicht stillt. In ihrem Elend sind sie Hungrige, die niemals satt werden.
xxxUnd da sind noch andere. Auch sie sind beherrscht von der Gier nach allem, was lebendig ist. Doch diese stillen ihren Hunger, und wenn sie satt sind, nähren sie sich von der Qual der Ausweglosen, ergötzen sich an ihrem Leid! Sie sind noch schlimmer, denn sie sind des Teufels!
xxxJetzt! Gemeinsam stürzen sie los! Der Sog der Geschwindigkeit auf der stark befahrenen Autobahn reißt sie mit wie Treibholz auf den Stromschnellen. Schreie kommen aus ihren nicht vorhandenen Mündern, werden lauter, wilder, dringen schließlich an das menschliche Ohr als heller Pfeifton, den Autoreifen beim Befahren von geriffelten Fahrbahnmarkierungen erzeugen. Johlend werden sie angezogen von dem großen Magnet ihrer Bestimmung. Die Anziehungskraft benebelt ihre Sinne, erweckt in ihnen den fast schon vergessenen Blutrausch ihres längst vergangenen, irdischen Daseins. Endlich am Ziel, endlich Befriedigung, endlich die Ausfahrt:
xxXGolgatha!“

„Golgatha“. Genau das hatte auf den sorgfältig gereinigten Schädeln gestanden, die man auf verschiedenen Rastplätzen gefunden hatte: „Golgatha“, und darunter jeweils ein Name, der Name des Opfers. Ein neuer Schädel wartete auf sie am anderen Ende der Stadt. Sie waren schon auf dem Weg dorthin gewesen, hatten nur einen kurzen Zwischenstopp eingelegt, um Mikes Koffeinspeicher wieder aufzufüllen. Aber irgendetwas hatte sich verändert, seit er vor ein paar Minuten das Fahrzeug verlassen hatte.
xxxMike wandte sich seinem Kollegen zu: „Woher nur hast du dieses Buch?“
xxxBerger fuhr los. Anstatt zu antworten, sagte er: „Ein Rentner hat dieses Mal den Schädel gefunden. Musste „austreten“, wie er es nannte. Mitten in der Nacht. Der Rastplatz war dunkel, jemand hatte die einzige Lichtquelle dort zerstört, trotzdem fand der Mann den Trampelpfad ins Gebüsch, es war ja Vollmond und die Nacht war klar.“ Berger setzte das stumme Blaulicht auf das Dach des Mercedes, ausgerechnet in einer scharfen Linkskurve.
xxxBerger berichtete weiter, und Mike sah sich in die Szene versetzt, die ihn an einen alten Horrorstreifen erinnerte. Zur Geisterstunde im dunklen Dickicht zu stürzen, sich den Kopf zu stoßen und das Bewusstsein zu verlieren, war schon schlimm genug. Aber aufzuwachen und in ein leeres schwarzes Augenhöhlenpaar zu blicken, das musste entsetzlich sein. Trotz der Hitze standen die Haare auf seinen Unterarmen kerzengerade in die Höhe. Das war nun schon die fünfte körperlose, frisch polierte Leiche. Die Abstände zwischen den Funden wurden immer kürzer. Er sah zu seinem Kollegen, der mit engelsgleicher Gelassenheit den Wagen durch den Feierabendverkehr manövrierte. Die Tachonadel stand auf 70.
xxx„Und wessen Name stand dieses Mal auf dem Schädel?“
xxx„Es ist ein Journalist im Ruhestand, der zurückgezogen lebt, niemand hat ihn bisher als vermisst gemeldet“, antwortete Berger.
xxxMike fasste sich an die Nasenspitze. Seine Gedanken rasten mindestens so schnell durch seinen Kopf wie die Gummireifen über den Asphalt. Mit unersättlichen Geistern hatte er es bis jetzt noch nicht zu tun gehabt. Er schlug das Buch noch mal auf, las noch mal die ersten Sätze. Bei einer langen Rechtskurve hatte er den Eindruck, ganz genau zu spüren, wie das, was einmal ein Schokoriegel gewesen war, an die linke Seite seiner Mageninnenwand gedrückt wurde. In ihrem Elend sind sie Hungrige, die niemals satt werden.“ Unersättliche. Wer war damit gemeint? Und wer waren die anderen? „…diese stillen ihren Hunger, und wenn sie satt sind, nähren sie sich von der Qual der Ausweglosen.“ Wer sollte das sein? Sadisten? Und wieso kam ihm dieser Schreibstil so bekannt vor? Mike ließ die Nase los.
xxx„Wie bist du an das Buch gekommen?“, fragte er erneut.
xxx„Gefunden.“ Berger sah ihn nicht an. Die Tachonadel kletterte stetig, sie fuhren nun auf der Autobahn.
xxx„Golgatha, Golgatha, wo hab ich das schon mal gehört?“ Mike dachte laut. „Kam da nicht mal Feuer und Schwefel vom Himmel? Im Alten Testament?“ Er kramte bis in die kleinsten Windungen seines Gehirns nach längst verschütteten Bibelkenntnissen.
xxx„Das war Gomorra, Sodom und Gomorra“, kam es von der Seite.
xxx„Richtig!“
xxx„Golgatha ist auch ein Begriff aus der Bibel“, erklärte Berger. „Übersetzt heißt er „Schädelstätte“ – der Titel des Buches. Zur Zeit Jesu war die Schädelstätte ein außerhalb der Stadtgrenze liegender Hinrichtungsort. Der zog die Schaulustigen magisch an, dort war immer was los, die waren damals nicht anders als wir heute. Auf Golgatha wurde Jesus gekreuzigt.“
xxxMike besah sich das Profil seines neuerdings bibelfesten Kollegen. Hm. Der Mörder hat das Buch entweder gelesen oder vielleicht sogar selbst geschrieben.
xxxWieder las er den Prolog.
xxx„Ich fasse grob zusammen: Die körperlosen Wesen sind böse, und es gibt zwei Sorten: Die einen töten, weil sie immer hungrig sind, die anderen sind satt und töten trotzdem.“ Er überlegte. „Letztendlich werden alle gleich bestraft, die Unersättlichen und die, die noch schlimmer sind. Was macht das für einen Sinn? Verstehst du das?“ Mike suchte wieder Bergers Blick, doch dieser starrte stur geradeaus, als er antwortete:
xxx„Wer sagt dir denn, dass die Geister in Golgatha bestraft werden? Hier geht es nicht um Bestrafung oder Vergeltung, es geht um Befriedigung. Befriedigung, die sie nur in Golgatha finden.“
xxxMike schwieg. Diese Seite kannte er noch nicht an Berger. Der Mann war praktisch veranlagt, schon fast ein zweiter MacGyver, der immer das richtige Werkzeug parat hatte. Berger war ein Mann, der Probleme sehen und anfassen musste, um sie zu lösen. Und das tat er für gewöhnlich ganz vorzüglich. Doch ein MacGyver deutet keine symbolische Metaphorik!
xxxDie Tachonadel stand auf 160. Berger fuhr viel zu dicht auf, ließ den Autos kaum Zeit, dem Blaulicht hinter ihnen Platz zu machen. Weiter so, und diese geteerte Masse würde sie schneller in die Verdammnis führen, als ihnen lieb war.
xxx„Warum alte Menschen? Warum tötet er immer wieder alte, einsame Menschen?“
xxx„Immer noch besser als junge zu töten“, war die Antwort Bergers, ein lapidarer Satz, aber in der Stimme schwang etwas anderes mit. Etwas, das klang wie: „Die sterben doch sowieso bald.“
xxx„Meinst du, es gibt noch mehr Schädel auf Autobahnrastplätzen, die nur noch nicht gefunden wurden?“
xxxBerger antwortete nicht. Der immer dichter werdende Verkehr hatte seine ganze Aufmerksamkeit. Mit beiden Händen umklammerte er das Lenkrad, als wollte er es an sich reißen. Von engelsgleicher Gelassenheit keine Spur mehr.
xxx„Fahr doch nicht so schnell“, flehte Mike im Stillen.
xxx„Dem Mörder geht es nicht nur um‘s Töten, er will auf sich aufmerksam machen“, mischte sich Berger in Mikes heimliches Flehen.
xxx„Das ist ihm mit Sicherheit gelungen“, Mike seufzte schwer. 170 km/h und ohne Zweifel fuhren sie direkt auf ein Stauende zu. Berger schien das nicht zu beeindrucken. Als teile sich das Kraftfahrzeugmeer vor ihnen genau in dem Moment, in dem sie es erreichten, gab er weiter Gas. Die Warnblinkleuchten vor ihnen schienen immer schneller zu blinken, je näher sie kamen.
xxxMike konnte sich nicht mehr beherrschen. „Berger!“
xxxDer Wagen bremste und kam knapp hinter dem Vordermann zum Stehen.
xxxMike löste die Schraubzwinge um das verwunschene Buch in seinen Händen.
xxx„Verdammt noch mal!“ Berger schlug auf das Lenkrad.
xxx„Der Schädel wird schon nicht vermodern, bis wir dort sind. Es ist ja nicht mehr weit“, sagte Mike.
xxxBerger blickte immer noch nach vorne, obwohl sich vor ihm absolut nichts mehr bewegte. Der Standstreifen war einer Baustelle zum Opfer gefallen. Die Autos standen eng und versetzt, da gab es kein Durchkommen.
xxx„Warum töten, um auf sich aufmerksam zu machen?“ Mike war es gewohnt, Antworten auf seine Fragen zu bekommen.
xxx„Was?“
xxx„Der Mörder, warum tötet er? Ich versteh‘ es immer noch nicht.“ Im Grunde hatte er noch nie verstanden, warum Menschen töten.
xxx„Das liegt in der Natur des Menschen.“
xxxMike betrachtete seinen Kollegen von der Seite, als hätte er ihn noch nie richtig angesehen. Ein Teil von Berger, seine unbekümmerte Art und sein Humor, schienen auf der Fahrt hierher verloren gegangen zu sein. Der Mann neben ihm mit dem aggressiven Unterton in der Stimme war ein Fremder. Ein Fremder, der ihn nicht ansah.
xxx„Wie meinst du das?“
xxx„Alle Menschen sind böse. Lies nur mal das Buch, dann verstehst du es.“
xxxBerger las Bücher? Auch etwas Neues. Mike las leidenschaftlich gern, fantastische Geschichten vom Abenteuer Leben. Aber ein Buch wie dieses, das alle Menschen über einen finsteren Kamm schert, würde er sich bestimmt nicht antun. Allein schon der Prolog bereitete ihm Kopfschmerzen. Fast schon zum Trotz schlug er es wieder auf.
xxx„Wenn du das gelesen hast, dann weißt du also, wie er denkt. Nährt er sich von der Qual der Ausweglosen, ergötzt er sich an ihrem Leid?“, fragte Mike schließlich.
xxx„Vielleicht haben seine Opfer gar nicht gelitten, und er hat sie nur erlöst.“ Wieder eine sachliche Aussage. War es das, was Mike an ihm störte? Seine kühle Sachlichkeit?
xxx„Noch sind sie auf der Lauer, wie Spinnen in ihrem Netz, die in Erwartung neuer Beute verharren. Jederzeit bereit, loszuschnellen! Sie warten auf den Auslöser, auf die Bewegung fetter Beute, die doch ihren Hunger nicht stillt. In ihrem Elend sind sie Hungrige, die niemals satt werden“, las Mike laut und nun schon zum x-ten Mal. Dann sah er auf. „Der Mörder ist eine Spinne. Eine Spinne, die niemals satt wird. Oder aber er jagt die unersättlichen Spinnen und beendet ihr Elend, indem er sie tötet. Aber warum stellt er ihre Schädel zur Schau? Warum auf Autobahnrastplätzen? Was ist sein Motiv?“
xxxFür einen kurzen Moment sah Berger ihn an. „Er kann gar nicht anders, es ist seine Bestimmung. Er ist dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit. Nur in Golgatha findet er Erlösung.“
xxxWar das schwarze Muttermal in Bergers linkem Augenwinkel immer schon da gewesen? Mike starrte es an, als sähe er es zum ersten Mal. Sein ausgezeichnetes Gedächtnis für Details in Gesichtern schien bei seinem Kollegen gänzlich versagt zu haben. Mikes verhaltenes Kopfschütteln galt mehr sich selbst, als er erwiderte: „Sag mal, wie oft hast du das Buch gelesen?“ Er tippte sich an die Stirn. „Von so was bekommt man doch Sand ins Getriebe, ohne es zu merken.“xxx

Das Blaulicht rotierte stumm protestierend über ihnen, Mike konnte es im Rückspiegel des Vordermanns sehen. Nur ganz langsam kam Bewegung in die vorderen Reihen, die Autos scherten aus, so gut es ihnen möglich war, um dem Polizeiwagen hinter ihnen Platz zu machen. Doch der Wagen vor ihnen mit dem rotierenden Licht im Rückspiegel blieb stur auf seiner Spur. Berger fuhr an, bremste, fuhr wieder an, bremste wieder und rückte immer näher auf, bis nur eine Handbreit die beiden Fahrzeuge voneinander trennte.
xxx„Was ist denn mit dem los?!“, rief Berger. Er hupte entnervt.
xxxEin aus dem Fahrerfenster in die Höhe gestreckter Mittelfinger war die Antwort.
xxx„Den nehm ich mir vor, Mike!“
xxxDie Autos, die an ihnen vorbeigezogen waren, füllten wieder die Lücken. Jetzt erst, als absolut nichts mehr voranging, konnte Mike erkennen, warum der Wagen vor ihnen sich nicht rührte.
xxx„Der Fahrer macht Fotos! Mensch Berger, sieh dir das an!“ Mike zeigte auf das Ausfahrtsschild direkt neben ihnen.
xxxUnter dem blauen Schild mit der Aufschrift „AUSFAHRT“ hing ein weiteres, auf dem in großen Buchstaben GOLGATHA geschrieben stand.
xxxBerger erfasste die Szene mit einem Blick. Wie der Blitz war er aus dem Wagen, hechtete zu dem Fahrzeug vor ihnen, riss die Autotür auf. Als Mike den Wagen verließ, schrammte die Kamera des Gaffers schon über die Fahrbahn. Der Fotograf schrie etwas, dann verstummte er. Sein Kopf kippte weg. Mike sah das Messer in Bergers Hand, Blut tropfte auf den heißen Asphalt und gerann in Sekundenschnelle.
xxx„Was in aller Welt tust du da?!“ Die letzte Silbe hatte seine Kehle noch nicht verlassen, da erkannte Mike ganz deutlich, dass der Mann mit dem Messer in der Hand nicht Berger war. Er hätte auf seine innere Stimme hören sollen. Dieser Mann sah Berger sehr ähnlich, doch das Muttermal im Augenwinkel, der schiefe Mund und die Scharte an der Braue! Nein, das war nicht sein Kollege. Deshalb hatte er es auch vermieden, ihn anzusehen! Das war ein Fremder!
xxxDer Fremde kam ihm ein Stück entgegen, blieb stehen. Das Klacken von Autoverriegelungen mischte sich in das Geschrei von Frauen und Kindern, das gedämpft und doch deutlich hörbar durch schnell geschlossene Fensterscheiben zu ihnen drang. Ein Motorradfahrer am Rande des Geschehens streckte seinen Arm aus, deutete auf einen Baum hinter dem Ausfahrtsschild. Mike nahm es nur am Rande wahr.
xxx„Die haben es nicht anders verdient! Da sind sie! Gnadenlose, gierige Gaffer! Schau sie dir an, präg dir ein, wie sie aussehen. Die sehen alle gleich aus! Ich erkenne sie sogar schon von hinten, wenn sie in einem Auto sitzen. Die schick ich alle in die Hölle!“, brüllte der Fremde, die Messerspitze auf unsichtbare Gegner gerichtet, die ihre engen Kreise um ihn zogen.
xxxDer Mann war wahnsinnig, ein gefährlicher Irrer. Jetzt nur ruhig bleiben, dir nicht anmerken lassen, dass du ihn nicht kennst, dachte Mike, als er sagte: „Berger sei vernünftig. Du machst den Leuten Angst. Sie haben dir nichts getan.“
xxx„Nichts getan?!“ Der Fremde schleuderte ihm diese zwei Worte mit voller Wucht entgegen, zeigte dabei auf den Baum hinter dem Schild mit der Aufschrift „Ausfahrt Golgatha“.
xxxJetzt erst sah Mike ihn. Was unter dem Baum stand, war keine Vogelscheuche, wie er zuerst beim Blick durch das verschmutzte Autofenster vermutet hatte, es war ein Mensch, der an einen Pfahl gebunden war. Seine weit aufgerissenen Augen ließen schon aus dieser Entfernung keinen Zweifel daran bestehen, dass er tot war.
xxx„Sie haben ihn getötet! Das haben sie getan! Schau ihn dir an!“, rief der Irre.
xxxMike hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, sich das näher anzuschauen. Selbst die Leitplanke schaffte es nicht, seinen massigen Körper aufzuhalten. Der Verdacht brannte in seiner Brust wie Feuer, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Als er vor der Leiche stand, packte ihn die Panik fest im Nacken. Er erstarrte. Die Augen des Toten waren die Augen seines Kollegen Berger. Sie blickten haarscharf an ihm vorbei, als könnten sie sehen, was nun Entsetzliches hinter seinem Rücken geschah. Schon hörte er das schwere Keuchen hinter sich, das lauter wurde, näher kam. Warum konnte er sich nicht umdrehen?
xxxEin warmer Hauch, viel zu dicht an seinem Hals. „Aus Golgatha gibt es kein Entkommen“, flüsterte es an seinem Ohr. Die Sonne stand hoch und zeichnete dunkle Schatten vor Mikes Füße. Er sah nach oben. Doch da war nichts zu sehen außer flirrend heiße Luft. Eine Fata Morgana, die einen Schatten warf?
xxx„Die Erlösung ist nahe“, war das letzte, das er hörte.

xxxDas erste, was er sah, waren weit aufgerissene Augen, die auf ihn herunter starrten. Sie gehörten einem Toten, den man an einen Pfahl gebunden hatte. Sein Mund war schief, im linken Augenwinkel lag ein schwarzes Muttermal, und die Scharte über der rechten Braue war besonders auffällig.
xxxMikes Kopf schmerzte. Er schmeckte Blut. Zittrig fingerte er sein Handy aus der Brusttasche, wählte das Revier, und hielt wieder den Blick wie gebannt auf die Leiche vor ihm gerichtet. „Berger, ich bin’s, Mike. Ich weiß nicht, wo ich hier bin. Auf irgendeinem Autobahnrastplatz. Hier ist niemand. Außer einer Leiche, sieht ziemlich gruselig aus. ….. Ein Mann, mittleres Alter…..“
xxxErst jetzt nahm er sie wahr. Sie standen um ihn herum, belauerten ihn, mit Gier in den Augen. Jederzeit bereit, ihre Handys zu zücken, den Auslöser zu drücken, ein Foto zu schießen, ein Video aufzunehmen.
xxxSie taten es und stillten damit ihren Hunger. Und als sie satt waren, stellten sie alles ins weltweite Netz, um sich mit anderen an dem Leid zu ergötzen, an der Qual der Ausweglosen.

© Anita Hasel, 2016

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