Die Zeitbombe

Als Heiko Zander den stickigen Verkaufsraum der Tankstelle betrat, war er in Gedanken schon bei seinem kleinen Sohn in Berlin. Den Geburtstag des Jungen durfte er auf keinen Fall versäumen. Er musste ihn wenigstens noch sehen, bevor seine Mutter ihn ins Bett brachte. Ihm blieb kaum noch eine Stunde, doch es waren rund 150 km, die noch vor ihm lagen. Die Zeit war verdammt knapp! Und nun war er auch noch gezwungen nachzutanken. Ausgerechnet jetzt! Wieder einmal ärgerlich über sich selbst, bemerkte er nicht die seltsame Stille.
xx„54 Euro 95.“
xxHeiko zog seine EC-Karte aus der bereits gezückten Geldbörse. Als die Kassiererin sie entgegennahm, sah er sie nicht an, er nahm sie nicht einmal richtig wahr. Sein Blick überflog das verblasste Werbeplakat für die Premium-Autowäsche und blieb dann an einer Pendeluhr hängen, die auf dem Regal hinter dem Tresen stand. Das überdimensionierte Pendel war eine schwarz marmorierte Kugel, die ihn an eine Bombe aus einem Zeichentrickfilm erinnerte. Es fehlte nur noch die Lunte. Verflixt noch mal, er würde zu spät kommen! Und jetzt schien dieses Kartenlesegerät auch noch defekt zu sein.
xx„Tut mir leid, manchmal nimmt es die Karten nicht auf Anhieb.“ Die Frau begann, dem widerspenstigen Gerät die ausgespuckte Karte wieder einzuverleiben, worauf es die Karte erneut auswarf. Ein Kräftemessen begann, eine Art Geduldsspiel, das sich in die Länge zog und unnötig Zeit verschwendete. Er hatte keine Zeit!
xx„Haben Sie denn kein zweites Gerät? Ich bin in Eile!“ Jetzt erst trafen sich ihre Blicke. Vor ihm stand eine ältere Frau mit Kraushaar und ärmelloser Kittelschürze, an der ein Namensschild hing: Roswitha Keller. Sie schwitzte, anscheinend die Wechseljahre. Und sie machte auf ihn den Eindruck, als wolle sie etwas Wichtiges sagen. Doch sie schüttelte nur den Kopf.
xxHeiko griff in seine Jacke, um sein Schlüsseletui herauszunehmen. Manchmal hatte er dort noch einen Reservegeldschein für alle Fälle. Doch wo war das Etui? Es folgte eine gründlichere Selbstdurchsuchung, wobei seine Jacke etwas höher rutschte und den Blick auf seine Dienstwaffe, die er am Gürtel trug, frei gab.

„Hände hoch oder ich schieße!“
xxHeiko gehorchte sofort. In dem Überwachungsspiegel, der schräg vor ihm unter der Decke hing, konnte er einen Mann sehen, der eine Waffe auf ihn gerichtet hielt. Ein Überfall! Das hatte ihm gerade noch gefehlt!
xx„Jetzt ist mir klar, warum Sie ihn hereingelassen haben. Sie haben gewusst, dass er kommt!“, bellte es hinter ihm.
xx„Nein, ganz bestimmt nicht!“ Roswitha war den Tränen nah.
xx„Meine Frau musste ihn hereinlassen. Wir können die Zapfsäulen nicht sperren! Das geht vollautomatisch und erst nach Ende der Öffnungszeit. Ich hab‘ Ihnen das doch schon erklärt!“ Das war die sonore Stimme eines älteren Mannes. Er stand etwas abseits, an ein Getränkeregal gelehnt und hatte eine blutende Wunde an der Schläfe.
xx„Erwin, bitte!“ Roswitha warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu.
xx„Nehmen Sie ihm die Waffe ab und dann weg damit! Na, wird’s bald?“
xxRoswitha ging um den Tresen herum, trat von hinten an Heiko heran und öffnete mit zittrigen Händen den Verschluss des Gürtelholsters, in dem die Waffe steckte.
xxHeiko ließ sie gewähren. Dann drehte er sich langsam um. Der Fremde, der etwa sechs Meter von ihm entfernt vor der Tiefkühltruhe stand, hatte eine Halbautomatik in der Hand. Er war in den mittleren Jahren, die Haare fettig glänzend und verschwitzt wie auch sein Hemd, das bis zum vorletzten Knopf geöffnet war und einen kugeligen, behaarten Bauch entblößte. Seine Nase wirkte geschwollen und war gerötet wie die eines Alkoholikers.
xx„Hat Pia Sie geschickt?“ Der Mann kam zwei Schritte näher.
xx„Welche Pia?“
xx„Pia Benzinger, meine Frau. Verschaukeln Sie mich nicht, ich warne Sie! Ich bin weder verrückt noch verblödet.“
xxHeiko schüttelte den Kopf. „Das ist nicht meine Absicht. Mein Name ist Heiko Zander, ich arbeite beim Drogendezernat in Berlin und bin hier nur auf der Durchreise. Wenn Sie mir nicht glauben, schauen Sie doch auf mein Nummernschild.“ Er zeigte auf seinen Wagen draußen neben der Zapfsäule.
xxBenzinger sah ihn misstrauisch an, erwiderte aber nichts.
xx„Wollen Sie Geld?“

Eine kleine Ewigkeit verging, als Benzinger endlich antwortete. „Ich will meinen Sohn wiedersehen! Meine Frau soll ihn mir bringen!“
xx„Ihren Sohn?“
xx„Ja, verdammt noch mal. Ist denn das zuviel verlangt, dass ein Vater seinen Sohn sieht?“
xx„Und Sie haben sich schon mit Ihrer Frau in Verbindung gesetzt?“
Benzinger nickte. „Bis 18 Uhr hat sie noch Zeit. Sonst fliegt hier alles in die Luft!“
xxHeiko sah auf seine Armbanduhr. Ihm wurde flau im Magen. Nur noch 20 Minuten!
xx„Wie lange warten Sie denn schon?“
xx„Viel zu lange.“
xx„Und wo wohnt Ihre Frau?“
xx„Keine Ahnung, die ist weggezogen.“
xx„Aber wenn Sie es nicht bis dahin schafft?“
xxBenzinger schüttelte den Kopf. „Es ist mir egal, wie sie es anstellt. Wenn sie nicht daran schuld sein will, dass ihretwegen Menschen sterben, wird sie es schaffen müssen.“

Erwin mischte sich ein: „Dieser Wahnsinnige hat keine Ahnung, was eine Explosion hier anrichten könnte. Die Tankstelle befindet sich in einem dicht besiedelten Gebiet. Hier wohnen Menschen, viele Menschen!“
xxBenzinger ging einen Schritt auf Erwin zu und kam ihm dabei gefährlich nah: „Sie nennen mich wahnsinnig?“, brüllte er ihn an. Dieser Mann war ein wandelndes Pulverfass.
xx„Erwin!“, Roswithas Stimme bebte. „Sei jetzt endlich ruhig!“
xxDoch ihr Mann beachtete sie nicht. „Ganz dicht können Sie doch nicht sein! Ihre Frau wird schon wissen, warum sie nicht kommt!“

Der “Wahnsinnige” hatte schon seine Waffe auf den alten Herrn gerichtet, als ein Telefon läutete und jede Bewegung im Raum erstarren ließ. Nach dem zweiten Klingeln hörte es wieder auf. Nervös begann Benzinger, von einem Bein auf das andere zu treten. Irgendetwas an seinem Verhalten kam Heiko seltsam vor. Betrunken war dieser Mann jedenfalls nicht, so viel war sicher. Fieberhaft überlegte er, wie er ihn überwältigen konnte, ohne die anderen zu gefährden. Er musste näher an ihn herankommen.
xx„Es ist furchtbar heiß hier. Ich werde meine Jacke ausziehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten und darauf bedacht, keine schnellen Bewegungen zu machen, zog Heiko seine Jacke aus und ging dabei einen Schritt vorwärts auf einen Zeitungsstapel zu, um sie dort abzulegen.
Benzinger beobachtete ihn argwöhnisch, die Pistole wieder auf ihn gerichtet. „Keinen Schritt näher!“

Heiko sah es ein, so würde er nicht weiterkommen. Es lag ihm jetzt nichts ferner, als diesen Mann noch nervöser zu machen. Der Verkaufsraum war vollgestellt mit Regalen und Schnickschnack, und die schwüle stickige Luft erzeugte zusätzlich ein Gefühl von beklemmender Enge. Ein klappriger Ventilator an der Decke drehte sich so langsam, dass es den Anschein hatte, jede Umdrehung würde die letzte sein.
xxDie große Uhr an der Wand neben der Eingangstür erinnerte Heiko an eine alte Bahnhofsuhr, was wohl daran lag, dass ihr Minutenzeiger an seiner Position solange verharrte, bis die Minute voll war. Dann erst sprang er weiter. Der Sekundenzeiger hingegen war sehr lebhaft, sein regelmäßiges Klicken hätte Heike sogar genervt, wenn er ganz entspannt gewesen wäre. Beim Sprung auf die volle Minute war das Klicken mehr ein Klacken und deutlich lauter, so wie jetzt: 12 Minuten vor 6. Er musste etwas unternehmen!

xx„Wie alt ist denn Ihr Sohn?“
xxBenzinger sah ihn erstaunt an. „10, im April wurde er 10 Jahre.“
xxErwin regte sich wieder. „Fragen Sie ihn, wo er die Bombe versteckt hat, Herr Gott noch mal!“ xxDer alte Mann war nicht zu bremsen. Doch Heiko ignorierte ihn.
xx„Sie haben ihn wohl schon länger nicht mehr gesehen.“
xxBenzinger nickte.
xx„Und wie heißt er?“
xx„Timmy, alles nennen ihn nur Timmy, aber richtig heißt er Timo.“
xx„Er hat gesagt, es ist eine digitale Zeitbombe! Er hat sie hier irgendwo versteckt!“, rief Erwin dazwischen.
xxHeiko ließ sich nicht beirren. „Bestimmt vermisst Timmy seinen Vater. Mein Junge nimmt es mir auch immer krumm, wenn ich mal eine Zeit lang nicht zuhause bin.“

Plötzlich ging in Benzinger eine Veränderung vor. Mit voller Wucht knallte er mit der Faust auf den Tresen, so unvermittelt, dass auch Heiko zusammenzuckte. „Wenn Sie meinen, ich lasse mich von Ihnen mit rührseligen Geschichten einlullen, dann kennen Sie mich schlecht!“ In diesem Moment meldete sich sein Handy. Benzinger trabte hin und her, während er telefonierte, doch den Polizisten ließ er dabei nicht aus den Augen. Das Gespräch war nur von kurzer Dauer. Zornig schleuderte er das Handy auf den Fußboden. Der Akkudeckel löste sich und sauste unter ein Regal.
xx„Sie kommt nicht?“ Heiko Frage klang rein rhetorisch.
xxBenzinger schüttelte den Kopf.
xx„Vielleicht wenn ein anderer mit ihr redet? Ich bin Polizist, das wäre doch einen Versuch wert. Vielleicht hört sie auf mich?“
xxTimmys Vater wollte etwas erwidern, doch dann sah er auf seine Armbanduhr. Noch acht Minuten!
xxHeiko bohrte weiter. „Sie haben doch nichts mehr zu verlieren. Wählen Sie ihre Nummer von diesem Apparat aus“, er zeigte zum Telefon am Tresen, „und dann geben Sie mir den Hörer.“
Benzinger zog die Schultern nach hinten und machte nicht den Eindruck, als würde er darauf eingehen. Doch zu Heikos Überraschung tat er es doch. Nachdem er die Nummer gewählt hatte, legte er den Hörer beiseite, ging einen Schritt zurück und verfolgte jede Bewegung seines Gegenübers mit dem Pistolenlauf.

„Hallo! Hier ist Heiko Zander, ich bin Polizist und einer der Geiseln Ihres Mannes. …. Nein, wenn ich Ihnen doch sage, Ihr Mann hat uns in seiner Gewalt und droht, die Tankstelle in die Luft zu jagen. …. Und wenn Sie mit ihm reden? Er will doch nur seinen Sohn wiedersehen. …Was?“. Heiko wurde kreidebleich. Na einer Weile sagte er: „Ja, ich verstehe.“ Dann legte er auf.
xx„Was hat sie gesagt?“
xxHeikos Gedanken rasten: Was sollte er nur tun? Soeben hatte er etwas erfahren, das die Lage schier aussichtslos machte: Timmy war vor einem Jahr gestorben. Doch sein Vater litt seitdem unter schizophrenen Wahnvorstellungen und war unberechenbar. Allem Anschein nach war dieser Mann zu allem fähig.

xx„Sie kommt. Und sie bringt Timmy mit. Doch sie braucht noch etwas mehr Zeit“, antwortete Heiko.
xx„Niemals! Ich hab‘ ihr alle Zeit der Welt gegeben, schon über ein Jahr habe ich meinen Sohn nicht mehr gesehen. Jetzt ist Schluss! Endgültig!“ Benzinger wirkte wie ein Dampfkochtopf unter Hochdruck. Schweiß tropfte von seiner Stirn, und sein Gesicht war krebsrot geworden.
Noch sechs Minuten! Heiko kam es so vor, als würde es immer heißer werden in diesem Raum. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!
xx„Sie hat gesagt, Ihr Sohn will Ihnen sein Zeugnis zeigen.“
xx„Er ist ein guter Junge, so gescheit. Der hat viel mehr auf dem Kasten als ich, er wird es mal zu etwas bringen.“
xx„Das können Sie miterleben“, log Heiko. „Geben Sie Ihr Vorhaben auf, und ich verspreche Ihnen, wir werden hier hinausgehen und vergessen, was geschehen ist. Und Sie können Timmy in den Arm nehmen!“
xxRoswitha nickte zustimmend, doch Erwin starrte nur ausdruckslos vor sich auf den Boden.
xx„Dafür ist es jetzt zu spät!“ Benzinger schüttelte den Kopf.
xx„Nein, es ist niemals zu spät! Sie hat mir gesagt, dass sie doch kommt, weil Timmy sie überredet hat. Er vermisst Sie sehr!“
xxBenzinger bekam feuchte Augen.

Jetzt begann Heiko, auf ihn zuzugehen.
xx„Bleiben Sie dort, wo Sie sind!“, rief Benzinger, und seine Waffe zitterte.
xxHeiko blieb stehen. Wieder ein lautes Klacken. Nur noch vier Minuten! Jetzt blieb nicht mehr viel Spielraum für Vorsicht.
xx„Timmy hat sein Zeugnis dabei. Er will es Ihnen zeigen.“ Langsam bewegte sich Heiko wieder auf ihn zu.
xxNun schrie der Mann, wie ein Tier, das man verwundet hat. Zwischen seiner Waffe, die er mit gestrecktem Arm in Anschlag gebracht hatte, und Heiko waren es nur noch zwei Meter.
Roswitha und Erwin hielten den Atem an, als der Polizist in Armlänge vor der Waffe stehen bleib. Es war nichts mehr zu hören außer dem Klicken der Uhr an der Wand. Der Sekundenzeiger hämmerte wie ein gigantisches Metronom in ihren Ohren, ihre Augen waren weit aufgerissen vor Todesangst. Gleich war alles aus!
xxHeiko nahm den scharfen Schweißgeruch seines Gegenübers wahr. „Geben Sie mir die Waffe. Tun Sie es für Timmy!“
xxDoch Benzinger reagiert nicht. Kostbare Sekunden vergingen.

Heikos Blick wurde magnetisch angezogen von den ruckartigen Bewegungen des fetten Sekundenzeigers. Der große Zeiger sprang auf den vorletzten Strich. Klack! Nur noch zwei Minuten! Nun blieb ihm keine andere Wahl. Seine Hand schnellte vor, packte die Waffe genau in dem Moment, als der Schuss sich löste. Blut lief ihm die Wange hinunter, doch er bemerkte es nicht. Schnell hatte er den Mann überwältigt, der nun in sich zusammengefallen war, auf dem Boden saß und begann, wie ein kleines Kind zu schluchzen.
xx„Raus, schnell raus hier!“, herrschte Heiko das Ehepaar an.
xxErwin lief zu seiner Frau, packte sie und rannte mit ihr hinaus.
xxHeiko packte den am Boden Sitzenden und schrie ihn an. „Die Bombe, wo haben Sie die Bombe versteckt?!“
xxDer Mann reagierte nicht.
xxHeiko gab ihm eine Ohrfeige und brüllte noch lauter: „Benzinger! Wo ist die Bombe?!“
xxNun wurde aus Benzingers Schluchzen ein rhythmisches Glucksen, immer lauter und irrer kam es aus seiner Kehle, das Lachen eines Wahnsinnigen. Der Sekundenzeiger rückte unerbittlich vorwärts, nur noch ein paar Ticks, wenn die Uhr vorging, dann vielleicht noch etwas länger.

Heiko hatte zu lange gezögert, das war ihm jetzt klar. Sein Atem ging hastig und sein Herz raste, doch Fliehen machte jetzt keinen Sinn mehr. Er ließ den Irren los und setzte sich mit der Waffe in der Hand auf den Fußboden, den Rücken an das Regal mit den Mozartkugeln gelehnt. Mechanisch wischte er den Schweiß von der Stirn und das Blut von der Wange. Vielleicht war das nun die Quittung eines Lebens, in dem Zeit für ihn immer ein sehr dehnbarer Begriff gewesen war. Ein letztes Mal sah er diese riesige, verhasste Uhr, wie ein Damoklesschwert hoch über sich: Auf den Punkt 18 Uhr. Sein Sohn würde mal wieder vergebens auf ihn warten und seine Mutter würde ihm sagen, dass sein Vater keine Zeit für ihn hat.

„Bumm!“
xxBenzinger hatte aufgehört zu lachen. „Bumm, bumm, bumm“, rief er, riss dabei die Augen auf und schlug mit der Hand auf den Fußboden. Heiko starrte ihn an: Erst jetzt war er sich sicher, dass es nie eine Bombe gegeben hatte.

Noch bevor er die Polizei alarmierte, wählte er ihre Nummer. Hart schluckte er den Kloß im Hals hinunter. „Ich bin’s.“
xxSie sagte nur „Ja“, ihre Stimme klang seltsam fremd.
xx„Ich wollte dir nur sagen, dass ich ihn liebe… Woher weißt du, warum ich anrufe?… Ja, ich kann nicht rechtzeitig da sein. Es tut mir so leid, ich…“

xxSie hatte schon aufgelegt.

© Anita Hasel